Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin (1900−1959) entwickelte bereits während des 2. Weltkriegs den Begriff Genozid zur Beschreibung des intendierten und auf Auslöschung einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe zielenden Massenmords. Das zwischen juristischer und historischer Deutung oszillierende Konzept hat seit seiner Verankerung in der von den Vereinten Nationen im Dezember 1948 ratifizierten Konvention eine schillernde Karriere gemacht. Als Instrument zur „Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ angesichts des präzedenzlosen Verbrechens des Holocaust entworfen, wurde der Begriff innerhalb kürzester Zeit zum ideologisch aufgeladenen rhetorischen Kampfmittel im Kalten Krieg sowie der Ära der Dekolonisierung. Später wurde er zur Grundlage eines ganzen Forschungsfeldes in der Geschichtswissenschaft. Im Seminar wird zunächst der historische Kontext der (bereits von Beginn an ambivalenten) Begriffsprägung im Detail rekonstruiert und entlang der Erfahrungsgeschichte Lemkins und seiner Vision nachvollzogen. Darauf aufbauend soll der Einzug des Konzepts in die Geschichtswissenschaft diskutiert und in seinen Konsequenzen für den globalen geschichtspolitischen Diskurs ausgeleuchtet werden.

 

Einführende Literatur: Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2019 (engl. Original: East West Street. On the Origins of Genocide and Crimes Against Humanity, London 2016); Douglas Irvin Erickson, Raphael Lemkin and the Concept of Genocide, Philadelphia 2016; Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte – Theorien – Kontroversen, München 2006.

Semester: SoSe 2024