„Offener Unterricht“ zog in den 1970er die Aufmerksamkeit der deutschen schulpädagogischen Diskussion auf sich (vgl. Göhlich (Hrsg.) 1997, S. 26). Dabei ist diese „neue Reformpädagogik“ (Jürgens, 2004) kein auf hiesige Schullandschaften begrenztes Phänomen: Angelehnt an englische und nordamerikanische Vorbilder gilt „offener Unterricht“ seit über vier Jahrzehnten als der Gegenpol zum „geschlossenen“ Unterricht (vgl. u.a. Knauf, 2009, S. 19; Garlichs, 1990, S. 59, v.a. Göhlich, Hrsg. 1997). Die Impulse und Bewegungen, die heute symbolhaft mit der Zahl „1968“ zusammengefasst werden, bilden dabei das jüngste Quellgebiet dieser „Bewegung“ (vgl. u.a. Jürgens, 1998; Reketat, 2001, S. 16; v.a. Göhlich, Hrsg., 1997). Damals wie heute begleiten „offenen Unterricht“ bestimmte Annahmen und Hoffnungen: Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der Kinder in schulischen Lehr- und Lernprozessen sowie Partizipation und ein demokratisches Verhältnis zu Lehrpersonen waren und sind Forderungen dieser „Bewegung“, da auf diese Weise dem kindlichen Lernen am ehesten entsprochen werden könne (vgl. Jürgens, 2004; Wallrabenstein, 1991). Für die Einlösung dieser Vorstellungen sind gewisse räumliche, materielle und persönliche Voraussetzungen und administrative Rahmenbedingungen nötig (vgl. Nicolas, 1997; Peschel 2005). „Offener Unterricht“ und seine assoziierten Lern- bzw. Unterrichtsformen als fächerübergreifende Unterrichtspraxis weisen damit einschlägige Schnittmengen mit den fachdidaktischen Grundlagen und Vorstellungen des Sachunterrichts auf bzw. stellt „offener Unterricht“ als der Schulpädagogik zugeordnetes Topos einen ausgewiesenen fachwissenschaftlichen Bezug zum Sachunterricht dar (vgl. Martschinke/ Hartinger 2015, S. 413– 419).

 

Gegenwärtig liegen mehr als siebzig deutschsprachige Monographien vor, die sich mit den Fragen auseinandersetzen, was „offener Unterricht“ ist, wie er durch zuführen ist und welche geschichtlichen Vorbilder und Vorläufer wie auch Legitimationen dieser beansprucht. So vielgestaltig dieses „Konzept“ (u.a. Ramseger, 1977, S. 26) dargestellt wird, so vielfältig gestalten sich auch die Antworten auf diese Fragen.

 

Das Seminar setzt vor diesem Hintergrund auf den sog. theoretisch-praktischen Doppeldecker: Ausgehend von den bekanntesten Quellen werden wir uns in theoretischer Hinsicht mit den unterschiedlichen Antworten auf die eben genannten Fragen auseinandersetzen und uns so mit dem aktuellen Diskussionsstand vertraut machen. Das Literaturstudium und der Austausch im Seminar sollen dabei das Augenmerk auf die Breite und Unabgeschlossenheit, aber auch die Vielfältigkeit der Diskussion über den "offenen Unterricht" richten. Schwerpunkte unserer Beschäftigung sind dabei die Präzisierungsversuche, die historische Fundierung, die Legitimationen und Relevanzen „offenen Unterrichts“, die typischen Durchführungselemente wie bspw. „Freiarbeit“, „Projekte“ oder „Pläne“ mit ihren methodischen Grundprinzipien wie auch die räumlich-materiellen Voraussetzungen sowie adaptive Bewertungspraxen. Dies stiftet die erste Klammer des Seminars, welche sich zur zweiten Seite hin öffnet:

 

Ferner gilt es, die Beschäftigung mit „offenem Unterricht“ in praktischer Weise anzubahnen bzw. vorzubereiten: Die Auseinandersetzung mit „offenem Unterricht" wird dabei grundständig durch die Initiative, die Erfahrungen und Meinungen der sich in wissenschaftlicher Ausbildung befindenden Lehrkräfte konturiert, ergänzt und abgerundet. Im Seminar selbst soll die Erfahrung des „offenen Lernens“ gemacht werden: Einschlägige Durchführungsmerkmale „offenen Unterrichts“ wie „Freiarbeit“ oder „Stationenlernen“ sollen praktisch umgesetzt, selbst erfahren und eingeübt werden. Für den Transfer in die eigene aktuelle Schul- und Unterrichtspraxis sollen Materialien und Aufgabenformate, welche als unabdingbare Voraussetzungen bestimmter Lern- bzw. Unterrichtsformen „offenen Unterrichts“ gelten, mit Hilfe geeigneter Software selbst (digital) erstellt werden. Hier ergeben sich synergistische Momente: Durch den Austausch im Seminar soll ein Fundus an einschlägigen Materialien entstehen, welcher die Lehrkräfte für eine praktische Umsetzung „offener“ Unterrichtspraxen rüstet. Dies bildet die abschließende, zweite Klammer des Seminars, welche die erste Kontur flankiert.

 

Ziel des Seminars ist es, den theoretisch-praktischen Doppeldecker einzulösen: Das vielperspektivische theoretische Spannungsfeld um „offenen Unterricht“ soll sichtbar und seine konkret-praktische Realisation ersichtlich gemacht werden.

 

Literatur:

 

Garlichs, Ariane. Alltag im offenen Unterricht. Das Beispiel Lohfelden-Vollmarshausen. Weinheim/ Basel, Beltz, 3. Auflage, 1990.

 

Göhlich, Hans-Dieter Michael (Hrsg.). Offener Unterricht, Community education, Alternativschulpädagogik, Reggiopädagogik: die neuen Reformpädagogiken. Geschichte, Konzeption, Praxis. Weinheim, Beltz, 1997.

 

Grunefeld, Maike; Schmolke, Silke. Individuelles Lernen mit System. Ein praxiserprobtes Jahreskonzept für alle Grundschulklassen (mit CD). Mühlheim, Verlag an der Ruhr, 2011.

 

Grunefeld, Maike; Schmolke, Silke. Individuelles Lernen mit System für Fortgeschrittene: Leistungsbewertung, Elternarbeit, Inklusion, Extra-Materialien Klasse. Mühlheim, Verlag an der Ruhr, 2016.

 

Haas, Ulrich. Selbstorganisiertes Lernen im Unterricht. Eine unterrichtspraktische Einführung. Weinheim, Beltz, 2015.

 

Jürgens, Eiko. Die ´neue´ Reformpädagogik und die Bewegung offener Unterricht: Theorie, Praxis und Forschungslage. Sankt Augustin. Academia, 2004.

 

Kasper, Hildegard (Hrsg.). Laßt die Kinder lernen: Offene Lernsituationen. Braunschweig, Westermann, 2. Auflage, 1991.

 

Knauf, Tassilo. Einführung in die Grundschuldidaktik. Lernen, Entwicklungsförderung und Erfahrungswelten in der Primarstufe. Stuttgart, Kohlhammer, 2. Auflage, 2009.

 

Martschinke, Sabine; Hartinger, Andreas. Öffnung von Unterricht. In: Kahlert, Joachim et al. .Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Regensburg, Klinkhardt, 2015. S. 413–419.

 

Nicolas, Bärbel. Offener Unterricht zum Schulanfang. Voraussetzungen, Beispiele für alle Fächer, Dokumentation der Lernergebnisse. Cornelsen, Scriptor, 1997.

 

Peschel, Falko. Offener Unterricht. Idee, Realität, Perspektive. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Hohengehren, Schneider, 2005.

 

Ramseger, Jörg. Offener Unterricht in der Erprobung. Erfahrungen mit einem didaktischen Modell. München, Juventa, 1977.

 

Reketat, Heike. Offener Unterricht – eine Fördermöglichkeit für hoch begabte Kinder in Regelschulen? Münster, LIT, 2001.

 

Wallrabenstein, Wulf. Offene Schule – Offener Unterricht. Ratgeber für Eltern und Lehrer. Hamburg, Rowohlt, 1991.


Semester: SoSe 2020