Master-Projektseminar: „Mittelschicht in Leipzig“

Wie kaum eine andere Stadt in Deutschland hat Leipzig mehrere grundlegende Trans­formationen in kürzester Zeit durchlaufen. Leipzig war nach der Wieder­vereinigung durch Abwanderung und große Bevölkerungsverluste charakterisiert und wurde zum Paradebeispiel einer „schrumpfenden Stadt“. Dann wurde sie als sogenannte „Armutshauptstadt“ Deutschlands gekennzeichnet, in der ein großer Anteil von Personen unter prekären Bedingungen lebt. Parallel dazu wurde sie vom Stadtmarketing als kommende Boomtown („Leipzig kommt“) neu positioniert, nur um kurz darauf auch von außen als „Hypezig“ und als „The Better Berlin“ betitelt zu werden. Mit der neuen Zuwanderung von 10.000-enden von Personen erfolgte jüngst nicht nur ein partieller Bevölkerungstausch und eine selektive Kaufkraftveränderung sondern erste Verdrängungs- und Segregationsprozesse setzten ein und das Label der „Gentrifizierung“ gewann an Bedeutung. In medialen Debatten gilt Leipzig nun vordergründig als aufstrebende, junge und hippe Stadt. Das Projektseminar stellt vor diesem Hintergrund Leipzigs urbane Mittelschicht ins Zentrum der Analyse. Mittels offizieller Daten und biographischer Erzählungen soll nachgezeichnet werden, welchen Widerhall die städtebaulichen und sozialräumlichen Entwicklungen und Umbrüche seit der Wendezeit im Leben der Mittelschicht gefunden haben. Wir werden überlegen, welche Aspekte die Mittelschicht charakterisieren. Gibt es so etwas wie einen „Normalitätsstandard“ für eine (sich verändernde) Mittelschicht? Wie stellte sich die „alte“ Mittelschicht der Nachwendezeit dar und wie grenzt sich diese von der Formierung der „neuen“ jungen Mittelschicht ab? Welche konservativen und welche innovativen Ausprägungen lassen sich finden? Und welche Bedeutung leiten die Mitglieder aus ihrer (selbst zugeschriebenen) Schichtenzugehörigkeit ab? Und welche räumlichen Ausprägungen weist die Verteilung unterschiedlicher Gruppen innerhalb des Stadtraums auf? Hieran schließen sich Fragen nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und zur Stabilität der gesellschaftlichen Mitte an. Wir möchten im Seminar damit eine bisher fehlende Verknüpfung zwischen stadtgeographischen Arbeiten und Forschungen zur sozialen Schichtung vollziehen.

Aktualisierungen: Im Zuge der aktuellen COVID-19-Pandemie können wir gegenwärtig keine Face-to-Face-Befragungen in Leipzig durchführen. Gleichzeitig scheint die Mittelschicht durch die aktuelle Situation in sehr ungleiches Fahrwasser zu geraten: einige – wie Beamte – erscheinen finanziell besser abgesichert, als Angestellte, die etwa in Kurzarbeit gehen, oder Selbständige, denen eventuell die Aufträge komplett wegbrechen. Private, vor allem jedoch staatliche Unterstützungen entscheiden über die aktuelle Krisenbewältigung und die Zukunft über Prosperität und Verschuldung der heutigen Mittelschicht. Im Seminar wird es daher darum gehen drei Phasen zu rekonstruieren: die Situation vor der Pandemie bis Ende Februar 2020, die Krisenphase mit Ausgangsbeschränkungen, und die angenommene Erholungs- und Normalisierungsphase nach der Krise.

 

Semester: ST 2020