Der moderne Begriff der Gemeinschaft erhält seine Schärfung im 18. und 19. Jh. als Gegenbegriff zur sichentwickelnden bürgerlichen Gesellschaft.   So wird die Gemeinschaft durch eine besondere Bindung gekennzeichnet, die durch geteilte Werte, Traditionen oder Rituale entsteht  und eine gegenseitige Verbindlichkeit der Gemeinschaftsmitglieder einfordert. Dem steht die anonyme, arbeitsteilig organisierte Gesellschaft von Individuen gegenüber, die sich lediglich durch unverbindliche ökonomische Tauschaktionen und vertragsmäßig aufeinander beziehen. Diese  Unterscheidung, wie sie etwa von Ferdinand Tönnies 1883 paradigmatisch ausbuchstabiert wird, speist ebenso die anti-bürgerliche Entfremdungskritik des Kommunismus wie die konservative Vorstellung einer einheitlichen und einheitsstiftenden Kultur, Sprache oder Tradition.  Die extreme Ambivalenz, die dem modernen Begriff der Gemeinschaft damit eingeschrieben bleibt, zeigt sich nicht zuletzt in der Aneignung durch den Faschismus des 20. Jahrhunderts, der sich in seinem anti-modernistischen Gestus auf die vermeintliche Identität einer Volksgemeinschaft  beruft.
Unter Berücksichtigung dieser mehr als problematischen Zweideutigkeit hat sich insbesondere in Frankreich eine neue theoretische Debatte   entsponnen, die den Gemeinschaftsbegriff erneut für die Ergründung des Zusammenlebens, für das Versprechen von Solidarität und Freundschaft stark zu machen sucht. Autoren wie Bataille, Nancy, Blanchot, Esposito, Agamben oder Derrida versuchen nun allerdings, die Frage nach Gemeinschaft in einem nicht-identitären Sinne zu beantworten. Anstatt bestimmte Zugehörigkeitsmerkmale im Voraus festzuschreiben, geht es ihnen vielmehr darum, ein Verständnis von Gemeinschaft zu entwickeln, das offen für die Andersheit und die Differenz bleibt. Das Seminar soll sich vornehmlich diesen differenztheoretischen Ansätzen widmen.
Semester: WiSe 2017/18