Mit dem Manifest „Česká moderna" (Die tschechische Moderne) aus dem Jahr 1895 hat die tschechische Literatur die Phase der „Nationalen Wiedergeburt“ endgültig abgeschlossen und den Anschluss an die literarischen Entwicklungen in Europawiederhergestellt. So wie alle anderen europäischen Nationalliteraturen zeichnet sich die tschechische Literatur des 1. Drittels des 20. Jahrhunderts durch eine Vielzahl sich relativ rasch ablösender Gruppenstile aus, die zum Teil nebeneinander existieren. Für die Zeit um die Jahrhundertwende wären hier u.a. Symbolismus, Dekadenz, Naturalismus, Expressionismus sowie die sog. Katholische Moderne zu nennen. In der Zwischenkriegszeit lassen sich dann zwei „Lager“ unterscheiden, die sich einander gegenüberstehen: Einerseits die Vertreter der historischen Avantgarde mit ihren Spielarten Neue proletarische Poesie, Poetismus sowie Surrealismus und andererseits die eher pragmatistisch ausgerichtete Generation von 1914 um die Gebrüder Čapek. Durch einschneidende politische Ereignisse, zunächst die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938 und dann durch die Machtübernahme der Kommunistischen Partei 1948, wird diese Entwicklung jäh unterbrochen. Es folgte die aus allen Ländern des ehemaligen Ostblocks bekannte Aufspaltung des Literaturbetriebs in einen offiziellen Bereich, der sich an der Doktrin des Sozialistischen Realismus orientierte, den sog. Samizdat und das Exil. Erst nach 1989 konnten diese drei Bereiche wieder zusammengeführt werden und sich die Literatur erneut frei von ideologischen Vorgaben entwickeln. Vor dem Hintergrund des hier kurz umrissenen historischen Prozesses zeichnet das Seminar anhand exemplarischer Lektüren die Evolution der tschechischen Literatur im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert nach. Vermittelt werden dabei grundlegende Kenntnisse über einzelne Gruppen-und Epochenstile sowie über zentrale Persönlichkeiten der tschechischen Literatur seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Semester: ST 2024