Als Cicero und Vergil zur Schule gingen, hatten die Annales des Q. Ennius im Unterricht denselben Kardinalsrang wie später die Aeneis: Man las dieses Epos des römischen Aufstiegs von der Urzeit bis zur Gegenwart des 2. Jh. v. Chr. nicht nur als Modell für lateinische Sprachkunst, sondern auch als eindrucksvolles patriotisches Monument. Bei Cicero etwa schlägt sich diese Lektüre in zahlreichen Zitaten nieder, durch die der ingeniosus poeta et auctor valde bonus (Mur. 30) Material für Argumentation und Schmuck der Rede liefert. Für Vergil wiederum diagnostizieren uns die spätantiken Kommentatoren eine lange Liste von Versen, in denen sie die Annales kreativ nachgeahmt sehen.
Für uns heute ist Ennius historisches Epos nur noch in dem Widerschein zu fassen, den es in den Werken solcher Leser hinterlassen hat. Im Seminar werden wir deshalb zwei Perspektiven einnehmen müssen: Einerseits wird es uns darum gehen, sich über eine Auswahl der erhaltenen Fragmente der Struktur und der literarischen Form des Werkes vor seinem zeit- und literaturgeschichtlichen Hintergrund zu nähern.
Zum anderen müssen wir den Blick aber auch immer wieder auf die Texte richten, die uns diese Fragmente darbieten. Dann nämlich ist zu fragen, inwiefern deren Intentionen und Wertungen unser Verständnis formen und welche Modalitäten bei der Herkunftsbezeichnung und Wiedergabegenauigkeit die Rekonstruktion beeinflussen. Die Lektüre dieses fragmentarischen Textes wird uns so vielfältige Impulse auch für das Verständnis der vollständig überlieferten klassischen Werke geben.
- Trainer/in: Tischer Ute