Walter Benjamin begann seine theoretischen Auseinandersetzungen mit Kant und Platon, bis er sich Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre zunehmend dem Materialismus zuwandte. Mit Skepsis betrachteten seine Bekannten diese Wendung zum Materialismus: Gershom Scholem warf Benjamin vor, sich selbst zu verraten und das eigene Denken zu verkleiden. Bertolt Brecht bemängelte, dass es nicht materialistisch genug ist, weil es zu sehr an metaphysischen und mystischen Gedankengängen hängt. Theodor W. Adorno fehlte es an der dialektischen Vermittlung. Und doch hielt Benjamin am Vorhaben fest, sein Denken mit dem Materialismus zu vermitteln, weil es ihm angesichts seiner prekären Lebenslage als Intellektueller innerhalb der sich zuspitzenden gesellschaftlichen Krise als einzige Möglichkeit erschien, sich mit den entscheidenden Gegenständen auseinanderzusetzen. So räumt er jedoch in einem Brief aus dem Jahre 1931 offen ein, dass es sich nur um eine angespannte und teils problematische Vermittlung seines bisherigen Denkens zum Materialismus handeln könnte. Doch trotzdem hält er an ihr als einziger gangbarer Weg der theoretischen Arbeit fest.
Das Seminar möchte den Weg dieser Vermittlung und Aneignung des Materialismus verfolgen. Dafür beschäftigen wir uns vor allem mit Benjamins Kritiken und Kommentaren zu anderen intellektuellen Arbeiten, an denen er seine eigene Methode durch Abgrenzung weiterentwickelte (so etwa zu Brecht, Karl Kraus, dem Surrealismus u.a.). Außerdem werden wir uns Aufsätzen aus dem Umfeld des Passagen-Werks und seinen Arbeiten zu Charles Baudelaire widmen. Korrespondierend zur Entstehungsgeschichte stehen am Ende des Seminars die Thesen über den Begriff der Geschichte, welche er 1940 kurz vor seinem Selbstmord verfasste.
Semester: ST 2021