Laut einer berühmten varietätenlinguistischen Theorie (Koch/Oesterreicher 1985; 2011) besteht eine starke Affinität zwischen dem Medium der Schrift und einer tendenziell ‘distanzsprachlichen’, standardnahen Ausdrucksweise. ‘Nähesprachliche’ Formen, die nicht den strengen Regeln der präskriptiven Norm unterliegen, seien dagegen typischerweise in phonisch realisierten Äußerungen anzutreffen. Von der unstrittigen Plausibilität dieser Annahme bleibt gleichwohl unberührt, dass prinzipiell auch standardfernes Schreiben möglich ist, dass also im graphischen Medium sehr wohl typisch sprechsprachliche Verfahren zum Einsatz kommen können. Seit der digitalen Revolution der 1990er Jahre scheint dies sogar immer mehr der Normalfall zu sein, und angesichts der vergleichsweise liberalen Formalitätsanforderungen in computervermittelter Kommunikation wurde bereits die ‘Destandardisierung’ moderner Schriftsprachen prognostiziert (Krefeld 2015).
Bei all dem darf aber nicht übersehen werden, dass standardfern natürlich auch schon in früheren Zeiten geschrieben wurde. Ganz offenkundig ist dies im Fall der ältesten romanischen Texte des Mittelalters, zu deren Entstehungszeit noch keine schriftsprachlichen Formulierungstraditionen etabliert, die Volkssprachen also noch gar nicht hinreichend ausgebaut waren. Nähesprachliche Verfahren lassen sich aber auch in späteren historischen Phasen, nämlich in Texten von ungeübten Schreibern beobachten, so etwa in privaten Aufzeichnungen aus der Frühen Neuzeit oder noch in Soldatenbriefen des 20. Jahrhunderts.
Auf der Basis der oben genannten Theorie wollen wir im Seminar zeitübergreifende und zeitspezifische Merkmale des standardfernen Schreibens herausarbeiten, indem wir Textbeispiele aus der über 1000-jährigen Geschichte romanischer Schriftlichkeit grammatisch, pragmatisch und varietätenlinguistisch analysieren. Wir konzentrieren uns dabei auf die Gallo- und die Italoromania.
Zum Einstieg empfehle ich die folgenden Arbeiten (vor allem Koch/Oesterreicher 1985):
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985). „Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“, in: Romanistisches Jahrbuch 36, 15–43. [Moodle]
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (22011). Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch (Romanistische Arbeitshefte 31). Berlin/New York: De Gruyter, hier pp. 3–19. [Moodle]
Krefeld, Thomas (2015). „L’immédiat, la proximité et la distance communicative“, in: Claudia Polzin-Haumann/Wolfgang Schweickard (Hgg.). Manuel de linguistique française (Manuals of Romance Linguistics 8). Berlin/Boston: De Gruyter, 262–274. [Moodle]
- Trainer/in: Klaus Gruebl