Das Seminar rückt die Utopien, Gesellschaftsentwürfe sowie Zukunftserwartungen während des politisch-gesellschaftlichen Umbruchs von 1989/90 in der DDR in den Mittelpunkt und fragt, wie diese heute aktualisiert und erinnert werden. Unterschiedliche Konzepte von Demokratie, Partizipation/Mündigkeit, Offenheit/Dialog und Wandel wurden von den damaligen Akteur*innen aufgerufen und diskutiert. Sie schlugen sich bspw. in dem Aufruf „Für unser Land“ nieder, der Ende November 1989 von Intellektuellen und Künstler*innen aus der DDR formuliert wurde und einen Dritten Weg zwischen dem Realsozialismus der DDR und der kapitalistischen Ordnung der Bundesrepublik skizzierte. Den Aufruf unterschrieben über eine Million Menschen; Unterstützung aus der Bundesrepublik gab es mit dem Aufruf „Für Euer Land, für unser Land“ (4.12.1989). Diese Ansätze von politischem Wandel, demokratischer Gestaltung und wirtschaftlichem Umbau prägten – wenn auch durchaus unterschiedlich – den Zukunftshorizont der Menschen in der Noch-DDR in den turbulenten Monaten zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990. Doch versandeten sie rasch nach dem Sieg der „Allianz für Deutschland“ (ein Bündnis aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch) bei den Volkskammerwahlen im März 1990 und im Zuge des bald einsetzenden Vereinigungsprozesses.

Erinnerungskulturell spielten die zeitgenössischen Gesellschaftsentwürfe und Zukunfts- erwartungen von 1989/90 lange keine Rolle, sondern galten als unrealistische „Utopisterei“. Zugleich gehören sie nicht nur zur Geschichte von 1989/90 wesentlich dazu, sondern sie prägen (als Erfahrung von Euphorie und Aufbruch ebenso wie als Erfahrung von Enttäuschung und Des-Illusionierung) auch die Vorstellung von Gesellschaft bis in die Gegenwart. Im Rahmen des Blockseminars soll gerade dieses Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart ausgelotet werden. Die zeitgenössischen Vorstellungen von einer – wie auch immer gestalteten – ‚besseren Gesellschaft’ werden an konkreten Fallbeispielen – Entwürfen, Räumen, Akteur*innen – analysiert und in ihrer Relevanz für die gesamtdeutsche Gegenwart besprochen.

Das Seminar ist als Tandem-Seminar angelegt; die Veranstaltung findet gemeinsam mit Studierenden der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg/Br. unter Leitung von Prof. Dr. Sylvia Paletschek und Dr. Anna Lux statt. Ziel ist es, verschiedene Erfahrungen und Verständnisse von historischen Zukunftsvorstellungen in Bezug auf 1989/90 zu diskutieren. Als Teil des Seminars sind daher auch zwei Exkursionen geplant – eine von Freiburg nach Leipzig (u.a. Besuch „Lichtfest“) sowie eine von Leipzig nach Freiburg.

Semester: WiSe 2022/23