Im Mittelpunkt des Seminars stehen verschiedene Lektüren von Sophokles‘ Antigone, die jeweils eine leicht verschobene Perspektive auf den zentralen Konflikt der Tragödie, das Verhältnis von Verwandtschaft und Staatsgewalt, Einzelnem und Allgemeinen, einnehmen. Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit ist die Erschließung des Textes von Sophokles, wobei ein Fokus auf den zahlreichen Ambivalenzen liegen soll, die die zentralen Figuren dort auszeichnen. Darauf aufbauend soll dann zunächst mit einem Kapitel aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“ eine einflussreiche moderne Interpretation der Tragödie diskutiert werden, in der Antigone als Ausdruck des antiken Konflikts zwischen Gesetzen der Verwandtschaft und Gesetzen der Polis zur Vorbotin des modernen Individuums wird. Mit dieser Lesart haben sich sowohl Jacques Lacan in seinem Seminar zur „Ethik der Psychoanalyse“ als auch Judith Butler in ihrem Buch „Politics of Kinship“ (dt. „Antigones Verlangen“) kritisch auseinandergesetzt: Während Lacan Antigone nicht als Repräsentantin eines familialen Gesetzes versteht, sondern in ihrem Handeln die unauflösbare Verbindung des Begehrens zum Tod aufdeckt, möchte Butler sie als Allegorie für die gegenwärtige Krise von Verwandtschaftsbeziehungen und Geschlechteridentitäten begreifen.

Parallel zur inhaltlichen Rekonstruktion der verschiedenen Positionen soll fortlaufend die Frage nach dem Verhältnis von Literatur, Philosophie, Recht und Psychoanalyse gestellt werden. Grundkenntnisse zu einem der im Seminar besprochenen Ansätze bzw. Autor:innen ist von Vorteil, aber nicht zwingend. Voraussetzung für die Teilnahme ist in jedem Fall die Bereitschaft, kontinuierlich die im Seminar behandelten Texte vorzubereiten und sich aktiv an der Seminardiskussion zu beteiligen.

Semester: WiSe 2022/23