Kursbeschreibung

In der Zeit zwischen 1956 (nach anderer Periodisierung 1958) und 1973 erfuhren die europäischen bzw. nordatlantischen Gesellschaften einen tiefgreifenden Umbruch in politischer, ökonomischer und soziokultureller Hinsicht. Zentrale Bereiche waren dabei die Entwicklung der Konsumgesellschaft, Zunahme und Aufwertung der Freizeit, Veränderung der Konstruktion und des Verhältnisses der Geschlechter zueinander, Liberalisierung von Lebensentwürfen und Verhaltensformen einschließlich der Sexualität, Entwicklung von Underground-Subkulturen und Pop mit seinen vielfältigen Deutungsangeboten. Dieser Wandel war in hohem Maße kodiert über spezifische Formen von Musik, ihre Skandalisierung oder subkulturelle Signifizierung als authentisch, aufregend, neu: Musik begleitete, vertonte und vermittelte neue Lebensentwürfe und wurde als Motor von (erwünschter oder unerwünschter) Veränderung gehört. 

Gleichzeitig war die Zeit dieser »Kulturrevolution« politisch, wirtschaftlich und mental stark von der »Systemkonfrontation« im Kalten Krieg geprägt. Es liegt sogar die Vermutung nahe, dass die »Konkurrenz der Systeme« ein wesentlicher Motor dieser Kulturrevolution gewesen ist. Gleichwohl wurde dieser Wandel bislang vor allem für Industriegesellschaften westlich der Blockgrenze untersucht. Neuere Arbeiten zeigen aber, dass es ähnlichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandel auch östlich des durchaus durchlässigen »Eisernen Vorhangs« gegeben hat. Deren Ergebnisse werfen neues Licht auf die Akteure dieser Revolution: Phänomene wie die »Sexuelle Revolution« wurden über lange Zeit in erster Linie der Studentenbewegung zugeschrieben – was insofern einen blinden Fleck im Osten Europas gerechtfergigt hätte, als es solche Bewegungen dort nicht gegeben hat. Einige Arbeiten zeigen aber, dass ein Wandel sexueller und sozialer Verhaltensweisen und Orientierungen bereits vorher und ausserhalb studentischer Milieus eingesetzt hatte, was dann wiederum einen neuen Blick auf die Gesellschaften östlich und westlich der Blockgrenze eröffnet und erforderlich macht. Ebenso scheint ein direkter Vergleich zwischen der subversiven Rolle von Musik sowie der Entwicklung der Popindustrie im westlichen, einer gezähmten Jazz- und Rockmusik im Osten sinnvoll zu sein. 

Ziele des Seminars

Das Seminar führt in diesen Themenkreis und in Herangehensweisen, Quellen und Methoden einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte Europas ein. Es konzentriert sich so weit möglich auf die beiden deutschen Staaten, wirft aber auch einen Blick auf die Verhältnisse in deren Nachbarschaft, insbesondere in den USA, Frankreich, Großbritannien, Polen und der ČSSR. Da es mitunter an einschlägiger (insbesondere deutschsprachiger) Literatur mangelt, werden auch englischsprachige Titel herangezogen und Übertragbarkeit bzw. Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse auf den deutschen Fall diskutiert. Ausserdem gewährt das Seminar Einblick in bislang unveröffentlichte bzw. noch nicht abgeschlossene Forschungen. In diesem Rahmen sollen die Studierenden lernen, Themen aus der vergleichenden Kulturgeschichte im Kalten Krieg zu entwickeln, zu kontextualisieren und zu bearbeiten. 

Erwartet werden regelmäßige und aktive Teilnahme am Seminar einschließlich der Lektüre bereitgestellter Texte und Beiträge zur Diskussion sowie ein eigenes Referat mit anschließender Verschriftlichung (nach Absprache). 

Einführende Literatur:

Es wird dringend empfohlen, vor dem bzw. im Laufe des Seminars einen ausführlichen Blick in die angegebenen Bücher zu tun, um sich einen Eindruck von den dort behandelten Themen bzw. der je gewählten Herangehensweise zu verschaffen.

Gesamtdarstellungen der Kulturgeschichte der BRD und DDR

Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, 3 Bde., Göttingen 2018.

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008.

Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009.

Einzelfragen: Alltag, Musik, Sexualität

Uta Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000. 

Bodo Mrozek, Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Frankfurt/M. 2019.

Sybille Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011.

Ulrike Heider, Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt, Berlin 2014.

Carola Sachse, Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939-1994, Göttingen 2002.

Kontextualisierungen

Jeremi Suri, Power and Protest. Global Revolution and the Rise of Detente, Cambridge/Mass. 2003.

William Jay Risch (Hrsg.), Youth and Rock in the Soviet Bloc. Youth Cultures, Music, and the State in Russia and Eastern Europe, Lanham 2015.

Semester: WiSe 2022/23