Das in prominenter Weise von Jacques Derrida zunächst ausgehend von sprachtheoretischen Überlegungen entwickelte Verfahren der Dekonstruktion, das in gegenwärtigen Kulturtheorien ebenso weitergeführt wird wie in Teilen der postkolonialen Kritik, hat sich stets auch als ein ethisch-politisches Projekt verstanden. Gleichwohl sah und sieht sich die Dekonstruktion dem Vorwurf ausgesetzt, ihre kritischen Interventionen in den europäischen Diskurs würden über keinen eigenen Begriff der Gerechtigkeit oder des Guten verfügen. Derrida hat dagegen in seinem zunächst als Vortrag gehaltenen Text „Gesetzeskraft“ versucht, die Dekonstruktion selbst als eine Form der Gerechtigkeit auszuweisen. Den Hintergrund dazu liefert ein in mehrfacher Hinsicht aporetisches Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, das er unter anderem im Rückgriff auf Walter Benjamins Aufsatz „Kritik der Gewalt“ freilegt. Mit Benjamin ist sich Derrida einig, dass moderne rechtliche Ordnungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben auf eine gerechte Weise organisieren sollen, vor einem massiven Begründungsproblem stehen, weil sie ihre eigene Einsetzung letztlich nur als einen Akt der Gewalt verstehen können. Diese Gewalt sucht das moderne Recht auch in seiner Anwendung heim, doch gerade aus diesem Moment der Heimsuchung erwächst, so die These, zugleich eine Forderung nach Gerechtigkeit.
Das Seminar möchte diese Denkfigur anhand einer gemeinsamen Lektüre von Derridas Buch „Gesetzeskraft“ und Benjamins „Kritik der Gewalt“ nachvollziehen. Im Mittelpunkt soll die immanente Erschließung der beiden Texte stehen, Vorwissen zu den behandelten Autoren oder theoretischen Ansätze ist nicht erforderlich, wohl aber die Bereitschaft, sich auf eine komplexe Textarbeit einzulassen.
- Trainer/in: Dirk Quadflieg