Feministische Theorie(n) und Geschichtswissenschaften
Prof. Maren Möhring / Christian Kleindienst
Seminar, dienstags, wöchentlich 09:15 – 10:45
1994 unternahm die Philosophin und Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young in ihrem Aufsatz „Gender as Seriality: Thinking about Women as a Social Collective“ den Versuch, eine nicht-essentialistische Konzeptualisierung von Geschlecht zu denken, in der Frauen als soziales Kollektiv und die Gemeinsamkeit sexistischer Diskriminierungserfahrungen über verschiedene soziale Lagen hinweg gefasst werden könnten. Youngs viel diskutierte Konzeptualisierung, welche Frauen nicht als eine Gruppe “with a set of common attributes and shared identity“ (S. 719) verstand, adressierte damit ein zentrales Spannungsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung, die einerseits nicht darauf verzichten konnte, die Existenz von Frauen als gesellschaftlicher Gruppe anzunehmen und andererseits den eigenen feministischen Anspruch nicht unterminieren wollte, indem sie dieser Gruppe bestimmte fundierende Eigenschaften zuschrieb. Youngs Aufsatz kann exemplarisch für eine Vielzahl feministischer Interventionen verstanden werden, deren Diskussion auch Eingang in die Geschichtswissenschaften fand und Anlass zur kontinuierlichen selbstkritischen Überprüfung der eigenen Kategorien, theoretischen Annahmen und Methoden bot.
Das Seminar befasst sich daher mit zentralen Konzepten feministischer Theorie(n) und deren Bedeutung für die Geschichtswissenschaften – etwa mit der Problematisierung von Dichotomien wie Sozial- und Naturwissenschaften, Kultur und Natur, Fakt und Fiktion, Sex und Gender oder die in den USA sich seit den 1970er Jahren entfalteten Debatten um feministische Wissenschaftskritik und feministische Epistemologien. Wie die Historikerin Caroline Arni im Rahmen der Diskussionsreihe „Geschichtliche Grundfragen“ anmerkte, ist „‘Theorie‘ […] in der Geschichtswissenschaft bekanntlich ein doppeldeutiger und im Gebrauch diffuser Begriff.“ Daher soll das Seminar das wechselseitige Verhältnis von feministischen Theorien und Geschichtswissenschaften in den Blick nehmen, welches sich womöglich nicht nur in der kritischen Befragung historiographischer Praktiken, der Reflexion von Begriffen und Fragestellungen sowie der Konstruktion von Gegenständen erschöpft, sondern auch in der geschichtswissenschaftlichen Verkomplizierung theoretischer Annahmen. Das Ziel des Seminars ist es, einen Überblick über ausgewählte Beiträge feministischer Theorien zu erarbeiten und die Bedeutung dieser feministischen Interventionen für die (geschlechter-)historische Wissensproduktion zu diskutieren.
Ein weiteres Ziel des Seminars ist es, die Pluralität theoretischer Zugänge und den Erkenntniswert verschiedener Perspektivierungen sowie die transnationalen Bezugnahmen zwischen US-amerikanischen und (west-)deutschen Kontext in Hinblick auf die diskutierte Literatur und ihre Rezeption in den Blick zu nehmen.
Literatur:
Iris Marion Young, Gender as Seriality: Thinking about Women as a Social Collective, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 19, H. 3. 1994, S. 713–738.
Caroline Arni, Vetorecht der Quellen. Teil 2 (= Dossier: Geschichtliche Grundfragen. Eine Diskussionsreihe), Potsdam 2022, unter: https://zeitgeschichte-online.de/themen/caroline-arni-teil-2-vetorecht-der-quellen.
Katharina Hoppe, Die Kraft der Revision: Epistemologie, Politik und Ethik bei Donna Haraway, Frankfurt New York 2021.
Katharina Hoppe, Donna Haraway zur Einführung, Hamburg 2022.
Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14, H. 3. 1988, S. 575–599.
Elisabeth List (Hg.), Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main 1989.
Joan W. Scott, Gender and the Politics of History, New York 1988.
Joan W. Scott, The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry, 17 (1991) 4, 773–797.
Ute Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. 1., in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 48 (1997) 4, 195–219.
Weitere Seminarlektüre wird zu Beginn der Veranstaltung auf Moodle zur Verfügung gestellt.
- Trainer/in: Christian Kleindienst
- Trainer/in: Maren Möhring