Die Erfahrungen von Kolonialismus und Nationalsozialismus sind vielfältig miteinander verschränkt. Die koloniale Welt war Schauplatz des Zweiten Weltkriegs; zudem kämpften an fast all seinen Fronten Soldaten aus dem Trikont mit – sowohl auf Seiten der Achsenmächte als auch der Alliierten. Einige Vordenker des Antikolonialismus, darunter der auf Martinique geborene Frantz Fanon, der mit „Die Verdammten dieser Erde“ (1961) das Manifest des Tiersmondismus schrieb, meldeten sich sogar freiwillig, um gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen. Zugleich hatte das Pathos des Universalismus und der Freien Welt, das insbesondere die Westalliierten im Kampf gegen das „Dritte Reich“ und seine Verbündeten bemühten, in den Kolonien die Hoffnung auf nationale Unabhängigkeit verstärkt. Auch deshalb ging der Zweite Weltkrieg nicht selten nahtlos in den antikolonialen Kampf über.
Diese Übergänge und Verschränkungen trugen bisweilen dazu bei, dass die Unterschiede zwischen beiden Erfahrungen, zwischen den Verbrechen des Kolonialismus und des Nationalsozialismus, die ihren zentralen Ausdruck in der Vernichtung der europäischen Juden fanden, in der damaligen Wahrnehmung verschwammen. Nicht nur Angehörige der nationalen Befreiungsbewegungen, sondern auch viele ihrer europäischen Unterstützer, die teilweise auf Erfahrungen im Kampf gegen den Nationalsozialismus zurückblicken konnten, wollten das antikoloniale Aufbegehren als konsequente Fortführung des antifaschistischen Widerstands begreifen. Diese Wahrnehmung wurde durch die besondere Situation des Kalten Kriegs verstärkt, der viele der bestehenden Differenzen und historischen Besonderheiten unter einer binären Semantik des Sozialen begrub.
Das Seminar ist historischen Deutungen dieser verschränkten Geschichte von kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt gewidmet. Vermittels kanonisch gewordener Texte und Sekundärliteratur über diese Deutungskonflikte wird zugleich den Überlagerungen und Unterschieden zwischen beiden Verbrechenskomplexen nachgegangen.
- Trainer DS: Jan Gerber