Im ‚langen‘ 19. Jahrhundert ist der Gedanke aufgekommen, den Gebrauch und die Erschaffung von Arbeitsmitteln als spezifisch menschlichen Arbeitsprozess in Abhebung vom Tier zu charakterisieren, wie Benjamin Franklin den Menschen beispielsweise 1778 als „a toolmaking animal“ definierte. Analog zu der Bedeutung, die beispielsweise William Jones’ Knochenfunde für die Paläontologie hatten, sollten Überreste von Arbeitsmitteln der Beurteilung untergegangener Formen menschlicher Tätigkeit dienen: Nicht was gemacht wird, sondern wie und mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheide verschiedene historische oder kulturelle Gesellschaftsformationen.
Die Musikgeschichtsschreibung kennt in derselben Zeit die Etablierung eines Diskurses und einer musikalischen Praxis von ‚kompositorischer Arbeit‘, die sich zunehmend von den älteren, vorklassischen Regelpoetiken des rhetorischen Paradigmas entfernen: Wenigstens dem Namen nach kennzeichnen nicht mehr wie im Barock inventio, dispositio und elaboratio den Kompositionsprozess, sondern Variationstechnik, motivisch-thematische Ökonomie, Variantenbildung und Thementransformation – Komponist:innen werden fleißig (Bartók), Musik erlange eine Betriebsamkeit (Strauss) und (populär)wissenschaftliche Deutungsversuche glauben, Parallelen zwischen Musikgeschichte und Industrialisierung ausmachen zu können (beispielsweise Adorno in Haydn). Schließlich halten zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Rücken einer historistischen Aneignung der Vergangenheit entwickelnde Variation und linearer Kontrapunkt Einzug, bevor die Nachkriegsavantgarde im Umfeld der Darmstädter Schule künstlerisches Schaffen im Spannungsverhältnis von formalisierter Automatisierung und kompositorischen Entscheidungen auffasst, und der Komplex von Arbeit mit der anbrechenden Postmoderne selbstreferentiell konzeptualisiert wird.

Literatur:
Peter Andraschke, Gustav Mahlers IX. Symphonie. Kompositionsprozess und Analyse, Wiesbaden: Steiner, 1976.
Yuta Asai, Anton Webern: Komponieren als Problemstellung. Quellenstudien zu seinem Schaffen 1914–1926, Stuttgart: Steiner, 2021 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 85).
Hermann Danuser / Günter Katzenberger (Hgg.), Vom Einfall zum Kunstwerk. Der Kompositionsprozeß in der Musik des 20. Jahrhunderts, Laaber: Laaber, 1993.
Ina Knoth, Paul Hindemiths Kompositionsprozeß «Die Harmonie der Welt». Ambivalenz als Rhetorik der Ernüchterung, Mainz et al.: Schott, 2016.
Ulrich Konrad, Mozarts Schaffensweise. Studien zu den Werkautographen, Skizzen und Entwürfen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1992.
Anna Zayaruznaya, Upper-Voice Structures and Compositional Process in the Ars Nova Motet, London: Taylor and Francis, 2018.
Tasos Zembylas / Martin Niederauer, Praktiken des Komponierens. Soziologische, wissenstheoretische und musikwissenschaftliche Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS, 2016.
Udo Zilkens, Beethovens Finalsätze in Klaviersonaten. Allgemeine Strukturen und individuelle Gestaltung. Vergleichende Analysen als Einblick in die Kompositionsweise Beethovens. Skizzen und Autographe als Schlüssel zum Kompositionsprozeß, Köln-Rodenkirchen: Tonger, 1994.


Semester: SoSe 2022