„Verein“ und „Stadt“ als Typen sozialer Interaktion ähneln einander; Sie teilen grundlegende Merkmale, die überwiegend von städtischen Strukturen wie der Schichtung der Bevölkerung vorgegeben werden. Der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Aufschwung des Vereinswesens war untrennbar verbunden mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Institutionalisierung bürgerlicher Denkweisen, Interessen und Kunstvorstellungen. Dabei waren neue urbane Lebensformen nicht nur eine Voraussetzung für diese damals noch junge Organisationsform, sondern in gewisser Weise auch ein Produkt ihres Erfolgs. Anschaulich wird die Rolle des Vereinswesens als Baustein kultureller Urbanität am Beispiel des Leipziger Musiklebens im 19. Jahrhundert, wo die zunächst mittel-, später großstädtische Musikkultur von einer vielfältigen und ausgedehnten Vereinslandschaft mitgetragen wurde.
In diesem Seminar werden wir zunächst eine Reihe von Texten diskutieren, um uns mit Theorien und Methoden der (Musik-)Vereinsforschung vertraut zu machen und Fragestellungen zur Wechselbeziehung zwischen Musikvereinen und musikkultureller Urbanität zu präzisieren. Hier kommen diverse Themenfelder zur Sprache, u.a. der Zusammenhang von sozialem und musikalischem Raum, die Polarität von Privatheit und Öffentlichkeit, die zunehmende Professionalisierung und Spezialisierung von ausübenden Musikern und Musikvermittlern oder die Diversifizierung und soziale wie geschlechtsspezifische Schichtung von Mitgliedschaften, aktiven und passiven Vereinsmitgliedern oder bloßen Zuhörern.
Von den Teilnehmer:innen wird insbesondere erwartet, sich einzeln oder in Gruppen mit Primärquellen zum Leipziger musikalischen Vereinswesen (meist online zugänglich: Zeitschriften, Statuten, Festschriften etc.) zu beschäftigen. Erste Arbeitsergebnisse sollen im Seminar präsentiert und anschließend in einer Hausarbeit vertieft werden.
Literatur:
Einen Überblick zum lokalgeschichtlichen Schrifttum bietet die „Literaturliste“ in: Musikstadt Leipzig. Beiträge zu ihrer Geschichte, hrsg. v. Helmut Loos, Leipzig 2019, S. 14-20.
Fahlbusch, Markus: „Räume der Musik. Die Entwicklung der musikalischen Veranstaltungsorte im 19. Jahrhundert am Beispiel der Frankfurter Museumsgesellschaft“, in: Musik - Bürger - Stadt. Konzertleben und musikalisches Hören im historischen Wandel. 200 Jahre Frankfurter Museums-Gesellschaft, hrsg. v. Christian Thorau u.a., Regensburg 2011, S. 253-277.
Heine, Claudia: ‚Aus reiner und wahrer Liebe zur Kunst ohne äußere Mittel‘. Bürgerliche Musikvereine in deutschsprachigen Städten des frühen 19. Jahrhunderts, Diss., Universität Zürich 2009. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/32388/.
Heise, Robert; Watermann, Daniel: „Vereinsforschung in der Erweiterung. Historische und sozialwissenschaftliche Perspektiven“, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 5-31.
Hinrichsen, Hans-Joachim: „Musikalische Geselligkeit und Selbstorganisation des Bürgertums. Musikvereine des 19. Jahrhunderts im europäischen Vergleich“, in: Musikfreunde. Träger der Musikkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Ingrid Fuchs, Kassel u.a. 2017, S. 207-217.
Nipperdey, Thomas: „Verein als soziale Struktur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert“, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hartmut Boockmann u.a., Göttingen 1972, S. 1-44.
Tenbruck, Friedrich; Ruopp, Wilhelm: „Modernisierung - Vergesellschaftung - Gruppenbildung - Vereinswesen“, in: Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25), hrsg. v. Friedhelm Neidhardt, Opladen 1983, S. 65-74.
- Trainer/in: Sean Reilly