Unter den führenden Komponisten des 19. Jahrhunderts zählt Franz Liszt (1811-1886) zu den schillerndsten, aber auch umstrittensten Persönlichkeiten: schon zu Lebzeiten und auch für die Nachwelt. Liszt avancierte in den 1830er/40er Jahren ausgehend von Paris zum ersten großen Starpianisten der Musikgeschichte. 1848 ließ er sich als Hofkapellmeister in Weimar nieder, um mit seinem neuen Konzept literarisch (und bildlich) inspirierter Programmmusik die Nachfolge nicht nur von Beethoven, sondern auch von Goethe und Schiller anzutreten, und löste damit eine musikästhetische Grundsatzdiskussion aus. Unmittelbar nach Gründung des „Allgemeinen Deutschen Musikvereins“ (1861) verließ er Deutschland, um sich in Rom der Kirchenmusik zu widmen und zum Abbé weihen zu lassen. In seiner Spätphase pendelte er zwischen Budapest, Rom und Weimar und experimentierte mit der Aufhebung der Tonalität.

Liszts vielfältige Identitäts-, Funktions- und Ortswechsel wurden von einer Musikgeschichts­schreibung, die auf eindeutige Klassifizierung zielt, mit Misstrauen betrachtet: Man warf ihm vor, seine „Rollen“ als Erbe der Klassik, als ungarischer Nationalkomponist oder als katholischer Abbé nur zu spielen. Tatsächlich verfolgte Liszt jedoch seit seiner Sozialisation im Paris der Julimonarchie ein klares Konzept von gesellschaftlich engagierter Musik, die über das poetische Programm des jeweiligen Werks dem Publikum eine Botschaft vermitteln soll.

Die Vorlesung vermittelt einen Überblick über Liszts Lebens- und Schaffensweg und sein vielfältiges Oeuvre, einschließlich seiner Schriften, und der sehr spezifischen Quellensituation (an den meisten seiner Texte war eine seiner beiden Lebensgefährtinnen, Gräfin d’Agoult und Fürstin Sayn-Wittgenstein, wesentlich beteiligt; zu vielen Werken liegen mehrere Fassungen vor; hinzu kommt eine Vielzahl von Bearbeitungen fremder Werke). Gerade dank der Vielfalt seiner Aktivitäten eignet sich Liszt besonders als Fallbeispiel, um durch das Prisma einer Persönlichkeit charakteristische Züge der europäischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts zu reflektieren.

Semester: WiSe 2022/23