Religion spielt eine zentrale Rolle für die Selbstverständigung des Menschen in der Welt. Allen Unkenrufen zum Trotz tut sie das bis heute. Dass die Religion auch von ihren schärfsten Kritikern als wesentliche Form der Selbstplatzierung und -thematisierung des Menschen anerkannt werden kann, zeigte sich vielleicht nirgends so deutlich wie bei den sog. Linkshegelianern um Feuerbach und Marx. Sie erkannten in der Religion ein (freilich unreflektiertes) Bewusstsein der Möglichkeit eines guten menschlichen Lebens, ein Bewusstsein der eigenen Idealität, welche der schlechten Realität als Forderung gegenübersteht. Aber ist die Religion damit verabschiedet? Oder, wie die Junghegelianer sich gegenseitig vorwarfen, bloß in neuem Gewand konserviert? Hegels Religionsphilosophie war für seine Zeitgenossen ein Versprechen, bei gleichzeitiger Kritik an unreflektierten Rede- und Praxisformen die anerkennungswürdigen und vernünftigen Inhalte der Religion zu bewahren.

Indem Hegel die Religion, neben Kunst und Philosophie, zu den Formen menschlicher Selbstvergegenwärtigung zählt, die absolut, d.h. nicht-relativ, auf den Geist als die Form menschlichen Lebens reflektieren, behauptet er zugleich die Inhaltsgleichheit von Religion und Philosophie. Fragen, die sich hieran anschließen, könnten daher sein: Lässt sich „Gott“ einfach durch „Geist“ ersetzen, religiöse Gehalte sich ohne weiteres, und ohne Verlust zu erleiden, 'verweltlichen'? Gibt es einen Unterschied zwischen einer ‚Wahrheit der Religion‘ und einer ‚Wahrheit der Philosophie‘? Inwieweit bestimmt die besondere, literarisch-narrative Form religiöser Rede auch ihren Inhalt? – Hegel selbst thematisiert die ‚Medialität‘ der Religion als „Vorstellung“, die über den vagen Modus des „Ungefähr“, etwa in der Rede über „Vater“ und „Sohn“, nicht hinauskomme (GW 16, 141). Wie gehen wir mit der Geschichtlichkeit der Religion, dem Gewordensein des Absoluten, um? Lässt sich, angesichts der modernen Anerkennung religiöser Pluralität, Hegels Rede vom Christentum als der „absoluten“ und „vollendeten“ Religion noch etwas abgewinnen?

Was es mit alldem auf sich hat, und ob Hegel, wie ihm gerne nachgesagt wird, die Religion einfach als durch die Philosophie belehrbar und letztlich auch durch diese ersetzbar versteht, sind Fragen, denen wir im Seminar nachgehen werden.

Hegel selbst thematisiert am Ende seiner Vorlesungen zu Philosophie der Religion selbst explizit die Differenz zwischen der Religion als gemeinsamer, ritueller und liturgischer Praxisform und der Philosophie, die demgegenüber keine vergleichbaren sozialen Bindungskräfte zu erzeugen vermag.

Gemeinsam möchten wir im Seminar Hegels Religionsphilosophie lesen, in ihrer Form in den zwei Suhrkamp-Bänden „Vorlesungen über die Philosophie der Religion I und II“ (GW 16 u. 17). Das Seminar wird als Blockseminar am 07. und 08. Oktober 2022 sowie vom 07. bis 09. Februar 2023 stattfinden. Für den ersten Teil des Blockseminars am 7. und 8. Oktober werden wir aus Teil I (Suhrkamp GW 16) die Einleitung und den Teil I „Der Begriff der Religion“ lesen (ca. 240 Seiten).  Die Bereitschaft zur Übernahme einführender Referate wird vorausgesetzt, da wir nur in gemeinsamer Arbeit diese große Textmenge bewältigen können.

Semester: WiSe 2022/23