Die Theorie des autoritären Charakters ist das einflussreichste sozialpsychologische Erbe der Frankfurter Schule. Hinter ihrer Entwicklung in den 1930er- und 1940er Jahren stand die drängende Frage, warum die Menschen die Herrschaft, unter der sie leiden, nicht bloß resigniert ertragen, sondern bereitwillig anerkennen, enthusiastisch begrüßen oder proaktiv forcieren. Warum akzeptieren manche Menschen Ideologien, die den Hass auf Differenz rechtfertigen, andere aber nicht? Kritische Theorien des autoritären Charakters geben darauf die Antwort, dass die sozialen Verhältnisse systematisch eine autoritäre Motivations- und Bedürfnisstruktur produzieren, die zur Stabilisierung ihrer internen Krisen notwendig auf die Verfolgung vermeintlicher oder realer Devianz angewiesen ist. Im Zuge des gesellschaftlichen Aufstiegs der Neuen Rechten und der anhaltenden Autoritarisierungswelle der westlichen Gesellschaften ist der scheinbar veralteten Theorie des autoritären Charakters neue Aufmerksamkeit zugekommen. Das Seminar wird sich in der ersten Hälfte dem Nachvollzug der theoretischen Grundkonzeption innerhalb der sozialpsychologischen Studien zum autoritären Charakter widmen und sich in der zweiten Hälfte neueren Theorien aus der psychoanalytischen Sozialpsychologie (Young-Bruehl), der soziologischen Gesellschaftstheorie (Amlinger/Nachtwey) und der Sozialphilosophie (von Redecker) zuwenden. Begleitend zu den Sitzungen werden psychoanalytische Grundbegriffe in kurzen Impulsreferaten von den Teilnehmenden vorgestellt.

Semester: SoSe 2023