Michael Köhler hat 2017 mit Recht und Gerechtigkeit einen Klassiker der Rechtsphilosophie verfasst. Guten Gewissens ließe sich dieses Werk als Summe des Rechts, also als systematische und zugleich enzyklopädische Begründung und Darstellung des gesamten Themenbereichs des Rechts bezeichnen. In diesem interdisziplinären Seminar werden wir uns anhand ausgewählter und für die Teilnehmenden zur Verfügung gestellter Passagen jedoch vornehmlich auf Köhlers freiheitlich-idealistische Begründung des Privatrechts beschränken. Das Privatrecht bestimmt grundsätzlich das Mein und Dein im Bezug auf äußere Gegenstände. Hier liegt kein ursprüngliches, unmittelbares Mein wie etwa beim eigenen Körper vor, sondern ein erworbenes Mein. Somit muss das Recht am Erwerb äußerer Sachen erst begründet werden. Nach Köhler ist hierbei der ursprünglichen Einsicht Kants zu folgen, dass das normative Prinzip des Privatbesitzes nicht aus der Empirie abgeleitet werden kann. Anstatt Eigentum bzw. Besitz also aus der empirischen Habe einer Sache zu begründen, muss es über ihren intelligiblen Besitz begründet werden: der Anerkennung durch andere Personen, über diese Sache frei verfügen zu können. Somit setzt der Erwerb einer Sache immer schon ein Verhältnis zu anderen Personen voraus, da Gegenstandsbesitz nicht bloß faktisches Haben, sondern ein normatives Verhältnis der Anerkennung des Rechts an der Sache und der entsprechenden Gebrauchsbefugnis durch andere Personen bedeutet. Grund für die Anerkennung dieses Rechts ist dabei die Tatsache, dass sich das ursprüngliche Freiheitsrecht des Menschen nur durch den freien Gebrauch angeeigneter Gegenstände verwirklichen lässt. Insofern nun die Freiheit jedem Menschen in gleicher Weise ursprünglich angeboren ist, hat im Grunde jeder Mensch das gleiche Recht auf eine ursprüngliche Aneignung der Weltsubstanz. Die Weltsubstanz steht deshalb rechtslogisch „ursprünglich-ideal der gesamten Menschheit gleichermaßen“ zu. Damit entfaltet Köhlers Konzeption des Privatrechts ein radikal kritisches Potenzial für unsere Zeit: Die sowohl national als auch mehr noch international beobachtbare, fundamental ungleiche Aneignung von Weltsubstanz und Produktionsmitteln widerspricht dem Prinzip des Privatbesitzes auf Selbstbestimmung, indem sie abhängige Existenzen hervorbringt.


Semester: ST 2024